Die
Stille des Hollunders
Die Anreise ist lang, mit dem Nachtzug bis Prag
und dann noch einige Stunden in einem schleichenden Intercity bis
Brünn, tschechisch Brno. Der Gepäckschalter mit der kittelbekleideten
älteren Frau erinnert an sozialistische Verwaltung. Sie drückt
uns einen sorgfältig ausgefüllten Zettel in die Hand.
„Begegnung mit Böhmen", das ist Programm und Berufung
für Erwin Aschenbrenner. Der gelernte Kulturwissenschaftler
hat ein Völkchen von Engagierten um sich geschart: Deutsche
und Tschechen. Arthur Schnabl, Literaturwissenschaftler und Historiker
und Lenka Hubackova, Touristikfachfrau und „Vorzeigetschechin",
wie sie lachend bekennt, sind zwei davon. Sie begleiten unsere Reise.
„Begegnung mit Böhmen" bedeutet immer auch Begegnung
mit Menschen. Die ganze Woche vor allem mit Lenka, die uns als tschechische
Reiseleiterin ihr Land nahe bringt. Sie erzählt etwa die Geschichte
des blauen Orion-Sterns: „Alle bekamen ein Schreiben der tschechischen
Schokoladenfirma Orion: Wer den Papierstern in sein Fenster hängt
und vom Schokoladenteam entdeckt wird, erhält einen Riesenvorrat
der Orion-Produkte geschenkt." Wir entdecken die Sterne überall,
selbst im entlegensten Dorf. Mähren, das ist viel Natur. Es
ist April, wir laufen durch den noch winterdunklen Mährischen
Karst. Ein Wald, durchzogen von Schluchten, Tropfsteinhöhlen,
mit klaren Bächen und steilen Anstiegen. Erste Gespräche
entspinnen sich mittags im Waldgasthaus am Kaminfeuer, bei der berühmten
tschechischen Knoblauchsuppe.
Mähren, das ist Dichtung. Für diesen Teil der Reise ist
Arthur zuständig. Er liest vor einem Höhleneingang eine
Szene aus einem Jugendbuch und vor unseren Augen ersteht der Kampf
der Höhlenbewohner mit einem Bären. Gedichte und kurze
Erzählungen begleiten uns während der ganzen Reise: Im
Bus, beim Besuch des jüdischen Ghettos in Boskowice, auf dem
Heiligen Berg von Mikulov, während die Abendsonne auf Weinberge
und Karstfelsen scheint und wir im Gras sitzen. „Die ursprüngliche
Art, Dichtung wahrzunehmen", sagt Arthur. Früher habe
man sich Geschichten immer in einem Kreis von Zuhörern erzählt.
Mähren, das ist Essen, süß und kalorienreich. In
Olmütz lernen wir Tschechisch nach der Speisekarte: Bramborové
Knedliky etwa, Kartoffelklöße, und Palacinky, nur eine
der vielfältigen süßen Mehlspeisen. „Die Kartoffeln
kamen erst mit den Brandenburgern hierher", erklärt uns
Arthur, daher der Name.
Vieles hier erinnert an Deutsche. Im Mittelalter bereits wurden
sie gerufen, um mit fortschrittlichen Methoden Produktion und Technik
zu entwickeln. Ein Nebeneinander von tschechischen, deutschen, österreichischen,
christlichen und jüdischen Einflüssen existierte über
Jahrhunderte. Mähren, das ist auch die nationalsozialistische
Geschichte. „Ich habe die drohenden Fäuste der Nachbarn
noch vor Augen", erinnert sich Frau Jidova an den nächtlichen
Abtransport aus dem kleinen mährischen Dorf nach Theresienstadt.
Damals war sie acht Jahre alt, deutsche Jüdin. Seit langen
Jahren wohnt sie nun in Olmütz, verheiratet mit einem tschechischen
Offizier. Ist sie Deutsche, Tschechin, Jüdin? „Ich weiß
es nicht", zuckt sie mit den Schultern, „vielleicht alles
zugleich?" Gefragt nach dem Zusammenleben vor der Katastrophe
der Deportation, antwortet sie: „Es ist immer alles gut gewesen."
Und fügt nachdenklich hinzu: „Es braucht seine Zeit,
die Dinge zu verarbeiten." In den letzten Jahren sei es leichter
geworden, über ihre Geschichte zu sprechen - auch wegen des
offeneren politischen Klimas.
Mähren, das ist auch die Geschichte der Vertreibung. Arthur
erzählt an einem langen Kneipenabend von einem Reisegast, der
sich leidenschaftlich über die verloren gegangene Heimat entrüstete,
bis ihn Lenka in den Arm nahm: Sie könne nichts dafür,
dass Tschechen heute in den ehemaligen Häusern der Deutschen
lebten. Gerhard, geboren im heutigen Tschechien, in Bayern lebend,
bekundet sein neutrales Interesse: „Ich habe keine Heimatgefühle",
sagt er, „mich interessiert nur das Land und die Leute, wie
sie heute hier leben." 1930 lebten etwa 800000 Deutsche neben
2,6 Millionen Tschechen in Mähren, davon 20000 Juden. „Das
nationalsozialistische Protektorat Böhmen und Mähren'
verschärfte die entstandene Konkurrenz zwischen Tschechen und
Deutschen", erklärt unser Historiker Arthur, „die
tschechischen Nationalgefühle wurden verletzt." In einer
gewaltsamen Aktion nach Kriegsende mußte die deutsche „Minderheit"
innerhalb von Tagen das Land verlassen. Eine schwierige Geschichte,
die Deutsche und Tschechen verbindet und gleichzeitig trennt, auch
heute noch.
Die Mährische Toskana
Mähren ist Ruhe, Sanftheit, sich langsam verändernde Landschaft
- von der hanakischen Ebene um Olmütz bis zu den Weinbergen
im Süden. „Die hanakischen Bauern galten als langsam
und dumm", sagt Arthur im Bus, als wir auf den Heiligen Berg
bei Olmütz fahren. Oben mit Blick auf die tischflache Ebene
rundum liest er noch einmal das Gedicht von der Essiggurke, die
ein Bauer seiner liebsten vom Markt mitbringt, „weil du so
brav bist." Mähren ist ein Land zwischen Böhmen,
der Slovakei, zwischen Polen und Österreich, von dem der tschechische
Dichter Jan Skácel sagt, die mährische Nationalhymne
sei die Stille, die Pause, wortlos, wie auch die Mähre, eigentlich
kein Volk seien. Jan Skácel ist Arthurs erklärter Lieblingsdichter;
aber auch andere lernen wir kennen: Hermann Ungar, geboren im jüdischen
Ghetto in Boskowice, dem geistigen Zentrum der Juden in Mähren,
Ferdinand von Saar, geboren in Brünn und Mitbegründer
der österreichischen Moderne.
Weiter geht's in die Mährische Toskana, Grüne
Hügel, blühende Obstbaumwiesen und plötzlich ist
es Frühling geworden: weiße Magnolienbäume blühen
um die Wette mit knallroten Tulpen und blauen Hyazinthen in den
Vorgärten des kleinen, unscheinbaren Dorfes Zdislawice, durch
das wir wandern, eins der vielen kleinen Dörfer, die zu einem
der unzähligen Schlösser Mährens gehören. Lenka
schafft es auf geheimnisvolle Weise, den Schlüssel zum Schloß
aufzutreiben, Ergebnis ihres beiläufigen Gesprächs mit
alten Frauen, die uns neugierig von ihrer Bank beobachten. Improvisation
gehört dazu, denn Schloß und Park sind in Privatbesitz
und stehen zum Verkauf. Marie von Ebner-Eschenbach lebte hier, eine
deutschsprachige Schriftstellerin. Im sonnigen Park sitzend, hören
wir eine ihrer Geschichten, in der sie das Leben der armen Häusler,
der Bauern und Hirtenbuben beschreibt. Literatur am historischen
Ort. Mähren ist „die Stille des Holunders".
Claudia Nietzel: Urlaub in Mähren
Die Texte stammen von den oben aufgeführten Zeitungen. |
|










[zurück]
|