Pressebericht in der “Brigitte” 27.11.1996

Brigitte Reisen
 

Von Dorf zu Dorf durch die verschneite Landschaft ziehen

Jaroslav Neuzil ist glücklich. Wie ein Michael Schumacher der Berge rührt er mit dem Schaltknüppel zwischen den Gängen seines Busses herum und schlingert Wege rauf und runter. Schneeflocken wirbeln durch die Luft. Klatschen gegen die Windschutzscheibe. Häufen sich auf dem Erdboden zu einer ein Meter hohen Schicht aus pulverisiertem, weißem Frost. Fast drei Stunden brauchen wir für die 65 Kilometer von Bayerisch Eisenstein nach Nove`Hutê. 14 Langläufer, die sich „Go East” gesagt haben und ihren Skiurlaub im tschechischen Böhmenwald verbringen wollen. Berge, Wälder, Wiesen, Gletscherseen und Hochmoore und Flüsse. Von herber Schönheit und unendlich weit dehnt sich der Gebirgszug an der Grenze zu Deutschland und Österreich. 40 Jahre lang militärisches Sperrgebiet, ein Niemandsland, in dem die Natur ungestört wuchern konnte. Gleich nach der Wende haben fünf Böhmenwald-Gemeinden angefangen, zwischen Birken, Buchen und Fichten ein Netz gut markierter Skiwanderwege aufzubauen. 300 Kilometer Loipen ziehen sich heute über die Berge. „Langlaufen ist in Tschechien ein Nationalsport”, sagt Jaroslav, unser Reiseführer, .und viel schöner als in den Alpen.”

Von Dorf zu Dorf können Skiwanderer durch die böhmische Landschaft gleiten. Keine schroffen Gipfel und engen Täler begrenzen das Netz der Loipen. Laufen wollen wir dort, so weit die Beine tragen. Mal werden wir von unserer Pension in Nové Huté aufbrechen, mal wird uns Jaroslav mit dem Bus zu unserem Startpunkt fahren. Skeptisch beäugt er unser wenig olympiaverdächtiges Rutschen als wir zum erstenmal auf Brettern stehen. Dann legt er los: Gewicht abwechselnd auf den linken und rechten Ski verteilen. Kräftig abstoßen mit dem hinteren Fuß. “Und Oberkörper in dieWaagerechte beim Doppelstockschwung!” Mit viel Geduld versucht der Tscheche unseren Schlurfschritt in ein dynamisches Gleiten zu verwandeln. „Nächste Woche findet hier der Böhmenwald-Marathon statt”, spornt er uns an. Hannelore nimmt Anlauf und saust den nächsten Hügel hinunter. Fünf Minuten später ziehen wir sie aus dem Schnee, die Skier verknotet, die Mütze über die Augen gerutscht, während unser Anführer mit langen Schritten hinter einer Bergkuppe verschwindet.

In einem sanften Auf und Ab geht es über Bergrücken, durch Hohlwege und Täler. Dicht an dicht stehen die Fichten und sind so dick mit weißen Kristallen bedeckt, daß kein Grün mehr an den Zweigen zu erkennen ist. Rauhreif überzieht wie Frostflaum die Kronen der Birken. Manchmal steht ein Marterl zum Gedenken an einem verunglückten Holzknecht am Wegesrand. Und manchmal Jaroslav, die Zigarette in der Rechten, die Stöcke/ in der Linken. Geduldig wartet er auf die heranschleichende Truppe. Die Spur eines Dachses zieht sich im großen Bogen über eine Wiese. Dahinter, heißt es auf unserer Karte, liegt der Ort Knižecí Pláne. An der Weggabelung aber ist nichts, kein Haus, kein Hof, keine Menschenseele zu entdecken. 1946 sind die 500 Einwohner vertrieben worden, weil sie Deutsche waren. Erst sind die Gebäude langsam verfallen, dann haben die Militärs sie gesprengt, damit sich kein Republikfüchtling zwischen den Mauerresten verstecken konnte.

Drei Millionen Sudetendeutsche mußten wegen dem Krieg das Land verlassen. Ausserdem gab es 300000 Menschen, böhmische wie tschechische und slowakische Widerständler, die in der Zeit des Nazi-Terrors umgekommen waren. Mehr als 60 deutsche Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, erzählt Jaroslav. In Knizeci Plane, einem ehemaligen Holzfällerdorf, ist der Friedhof verschont`geblieben. Ein Viereck aus Eisenkreuzen und Granitsteinen, das hinter einem Hügel liegt. Dort wo früher die Kirche stand, haben ehemalige Dorfbewohner ein Holzkreuz in den Boden gerammt. Grasgrün ist es. Und zehn Meter hoch. Im Zentrum des Böhmenwaldes, zwischen Zelezná Ruda und dem Lipno Stausee, leben nur noch 900 Menschen.

Vor fünf Jahren ist das Gebiet zum Nationalpark erklärt worden – 685 Quadratkilometer, sechsmal so groß wie der deutsche Vorzeige-Nationalpark Bayerischer Wald. Keinen einzigen Deutschen treffen wir auf den tschechischen Loipen, nur einen Steinwurf von der Grenze entfernt. In sportlich engen Hosen und mit flatternden Jacken flitzen ein paar schneebegeisterte Einheimische an uns vorbei. Šumava, die Rauschende, nennen sie den Böhmenwald: Im größten Waldgebiet Mitteleuropas hört man nur das Wispern des Windes in den Zweigen der Bäume. Autos gibt es so gut wie gar nicht auf den Straßen des Nationalparks. Aber in fast jedem Ort eine gemütliche Gastwirtschaft. Mindestens ein Hirschgeweih hängt an den holzverkleideten Wänden über dem Eingang. Für drei Mark bekommen wir mittags deftige böhmische Küche auf den Tisch, Serviettenknödel mit Schweinebraten oder Kartoffelsuppe und Palatschinken.

Abends sitzen wir, die Gesichter rot und verschwitzt, die Blasen an den Füßen mit Pflaster versorgt, im Flur unserer Pension und warten. Gerade mal vier Duschen hat die Unterkunft in Nové Hute` – Schfafplätze mit Komfort sind Mangelware. „Wie damals auf der Klassenfahrt”, grinst Christina, schält sich aus einem grünlichen Polstersessel mit Sechziger-Jahre-Look, klemmt sich Handtuch und Seife unter den Arm und verschwindet in einem der beiden Gemeinschaftsbadezimmer. Spartanisch sind auch die Zimmer eingerichtet, braun-beiger Teppichboden, Furnierholzmöbel, Neonröhren. Wie die meisten Quartiere war die Pension Klostermann früher ein Betriebsferienhaus. “Aber was soll’s”, meint Gabriele, die schon zum fünften Mal im Böhmenwald ist. “Hauptsache, draußen ist es schön.” Eiszapfen hängen an den Regenrinnen, durchbohren fast die Fensterbretter. Strahlendweiß leuchten die Häuser der 85-Seelen-Gemeinde in der Sonne. Frisch renoviert und rosarot ragt die Dorfkirche aus dem Schnee. Nur vom Tante-Emma-Laden neben unserer Pension blättert der Putz. “Vieles geht besser seit derWende, erzählt-die-Besitzerin, die in geblühmter Kittelschürze hinter der Verkaufstheke steht. ,,Aber mit 350 Mark Durchschnittslohn können wir hier noch keine Sprünge machen.”

Nationalpark Böhmenwald ist knapp bei Kasse, er muß größtenteils ohne Zuschüsse des Staates auskommen. Um die Löhne der Mitarbeiter bezahlen zu können, werden sogar Bäume gefällt und an Papierfabriken und Möbelhersteller verkauft. „Wo bleibt-da der Naturschutz!” schimpft Jaroslav, Mitglied der tschechischen Grünen. Seit neuestem wühlen sich industrielle Goldsucher durch den Boden der Sûmava. Goldsucher? „Ja, bis ins 19. Jahrhundert hat man in der Moldau und in der Otava nach kleinen Nuggets gefischt. Aber für einen anständigen Goldrausch hat es nie gereicht.” Heute wollen die Profis 2500 Tonnen Erde pro Tag abräumen, in den Hügeln von Kašperské Hory. „Nicht mit uns”, sagen Bürgerinitiativen und Umweltverbände. Mit Protestversammlungen, Unterschriftenlisten und Petitionen kämpfen sie gegen die Pläne.

Wir wollen Gold sehen. Kramen unsere Skier aus dem Bus und machen uns auf den Weg zur Kalten Moldau. Dort kann man mit einer Schüssel in der Hand stecknadelkopfgroße gelbe Klümpchen aus dem Schlamm des Flusses waschen, Zwischen Borová Lada und Kvilda windet sich die Moldau durch den Schnee. Am Ufer stehen spitz geformte, mannshohe Hügel – die Abraumhalden der traditionellen Goldwäscher. Heute macht sich kein Böhmenwäldler mehr die Mühe, für ein paar glänzende Körner stundenlang im kalten Wasser zu stehen. Nach einem Blick auf die Strömung, auf die mit Schnee bedeckten Felsen mitten im Fluß stemmen wir uns auf die Skistöcker und machen uns auf den Rückweg nach Nové Hutê.

An dunkelbraunen Holzhäusern gleiten wir vorbei, die einsam in der Landschaft stehen. An Bauernhöfen mit breit ausladenden Dächern, patinagrünen Türmchen und Stapeln von Brennholz neben der Tür. Nur an den Rändern des Gebirges sind kleine Städte gewachsen. Wie Prachatice, Jaroslavs Heimatort, dessen Altstadt so aussieht, als wäre sie vor 400 Jahren eingepackt und erst vor kurzem wieder ausgewickelt worden. Oder Ceský Krumlov, auf deutsch Krumau, von der Unescoo als bedeutendes Weltkulturerbe eingestuft. Die Stadt liegt zwischen zwei Schleifen der Moldau. Ein Ansammlung von rotbraunen Ziegeldächern aus Fresken, Wappen, Säulen, Simsen, Ornamenten und Schnitzereien. Fast alle Häuser im Zentrum wurden im ausgehenden Mittelalter gebaut, manche später mit Barock- oder Rokokofassaden verkleidet.

Wie eine Festung thront das zweitgrößte Schloß Tschechiens über dem Ort. 600 Zimmer, fünf Innenhöfe, von einer meterdicken Mauer umgeben. Im Sommer treten sich die Besucher von Ceský Krumlov gegenseitig auf die Füße. Sogar Prinz Charles und das schwedische Königspaar waren auf Sightseeing-Tour hier. Im Winter dagegen ist es still und schön. Kleine Jungen kicken Eisklumpen über das Kopfsteinpflaster, wischen sich die Rotznase am Ärmel ihres Anoraks ab. Die Abendsonne spiegelt sich in den Bleiglasfenstern der Häuser. Durch den Spalt einer angelehnten, mit schmiedeeisernen Ranken verzierten Tür dringt Flötenmusik durch die Gassen, „Soviel Kultur, soviel Natur”, sagt Hildegard neben mir, als wir wieder im Bus durch die verschneite Landschaft fahren. „Das gibt’s bei uns schon lange nicht mehr.”

Die Texte stammen von den oben aufgeführten Zeitungen.

 

 

 

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