Pressebericht in “Der neue Tag” 31.8.1996 : Reisen an die Moldau, Tschechien | ||
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Über die Strudel der Otava –Eine Reise entlang der Moldau Auf beiden Seiten des Flusses sind saftige grüne Sommerwiesen. Der Wind streicht durch die Laubbäume am Ufer. Die Otava, die im Böhmerwald entspringt und in die Moldau mündet, zieht unser Kanu ruhig in ihrer Strömung mit. Eine Idylle, denken wir. Doch die Gischt, die wir zwanzig Meter vor uns erblicken, verspricht Leben in den Tag zu bringen. Jaroslav, unser tschechischer Reiseleiter, dirigiert das vorausfahrende Boot vom Ufer aus hektisch über eine Stromschnelle und drückt im richtigen Augenblick auf den Auslöser seiner Kleinbildkamera – geschafft! Die ersten sind durch! Seine Gesichtsmuskulatur entkrampft sich ein wenig. Der 49jährige, joviale Mann hat’s nicht leicht mit den 13 deutschen Greenhorns in seinem Troß, die in den kommenden Tagen die niederen Weihen des Kanufahrens erhalten möchten. Wir sind an der Reihe. Nicole, mein „Haken”, wie der Vorder-„Mann” von Jaroslav genannt wird, verspürt ein Kribbeln im Bauch. Mir geht’: nicht anders. Ich versuche mich als „Hinterer” als Steuermann. Unsicher setzen wir unsere an die vier Meter lange Kunststoffschale in Bewegung. „Nach links, nach links!” hören wir Jaroslav vom Ufer aus rufen. Vergeblich, die aufgewühlte Otava treibt schon ihr unberechenbares Spiel mit uns. Ein reißendes Geräusch zieht sich am Kanuboden entlang. Wir sind aufgefahren – genau auf den Stein, vor den uns Jaroslav gewarnt hatte! Hat das Kanu Schaden genommen? Keine Zeit. Durch kräftiges Schütteln löst sich das Boot schließlich, nur um sich im tobenden Wasser ein-, zweimal zu drehen, rückwärts weiterzufahren und mit viel Glück an die Uferböschung zu driften. Nicole atmet erleichtet auf. „Das war stuntmanreif!” sollte uns später attestiert werden. Begonnen hatte unser Abenteuer, das der Regensburger Verein „Grünes Herz Europas – Nationalpark-Region Donau-Moldau” organisierte, schon drei Tage zuvor mit einer Radtour im Böhmerwald – im Ursprungsgebiet der Otava (Wottawa), dem Zusammenfluß von Kremelna (Kieslingbach) und Vydra (Widra). In der Tat hinter laßt eine Radtour durch den Böhmerwald, dessen Kernregion als Nationalpark geschützt ist, bleibende Eindrücke. Ganze 900 Menschen wohnen heute in diesem Nationalpark, der eine Fläche von etwa 600 Quadratkilometern einnimmt Die-Tschechen lieben ihn, ihren Böhmerwald, nennen ihn verklärend Sumava, „die” Rauschende. Moorbäche, Luchse, alter Wald Und dennoch sind diese ersten Tage im Böhmerwald kein bloßes Naturerlebnis, sondern auch ein Stück Vergangenheitsbewältigung für uns Deutsche. Am Wegesrand treffen wir auf schmiedeeiserne Kreuze mit deutschsprachigen Inschriften, viele Ortsnamen klingen „deutsch”, Wege, die ins Nichts führen deuten aufehemalige Gutshöfe hin, die dem Erdboden gleichgemacht worden sind. Déjávus. Ungewollt stolpern wir in eine Zeitreise. Die Leiden des Zweiten Weltkriegs werden uns 30jährigen gewahr, als hätten wir sie selbst durchlebt. Durch den Böhmerwald radeln, heißt auch auf alte Wunden stoßen, Wunden, die sich Tschechen und Deutsche vor 50, 60 Jahren, vom Nationalismus erfaßt, gegenseitig zugefügt haben. Offenbar wird dies auch, als wir durch die Ortschaft Kvilda (Außergefild), nahe der Moldauquelle, radeln. „Da unten stand mein Elternhaus. In dem Gebäude vor uns war die Schule untergebracht. Und dort, auf der anderen Straßenseite, gab es früher ein Gasthaus, aber das ist -wie so vieles- abgerissen worden.” In den Erinnerungen eines Sudetendeutschen, der 1946 als Elfjähriger aus dem Dorf vertrieben wurde, klingt Melancholie mit. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder reist er jedes Jahr etliche Male in die alte Heimat. Es ist Zufall, daß wir die beiden heute treffen. Wie sollen wir mit dieser Begegnung umgehen? Stehen da Opfer vor uns oder Angehörige einer Volksgruppe, die durch Provokation ihr kollektives Los selbst zu verantworten haben? Wer denkt an die mißhandelteten Tschechen? Was geht uns das heute überhaupt noch alles an, 50 Jahre danach? Minus fünf Grad im August Sušice (Schütlenhofen) heißt das erste Etappenziel, das wir nach einer grandiosen Abfahrt bald erreichen. Dort steigen wir ab von unseren Drahteseln, um die Tour mit Kanus fortzusetzen. Jaroslav zeigt uns ein paar grundlegende Griffe -„Mit der einen Hand das Paddel ganz unten packen, mit der anderen das obere Ende fest umgreifen. Und verliert mir das Paddel bloß nicht! Es ist heilig!” Alle Mann ins Wasser. Unverichteter Dinge tummeln sich unsere sieben Zweier-Kanus in der Otava, die in Sušice schon deutlich breiter ist als etwa Vils und Naab. Unsere beiden Finanzbeamten aus Nürnberg, Gerhard und Gerhard, kommen mit den Booten sofort gut klar. Sie haben schon Erfahrung. Wolfgang, unser zweiter Reisebegleiter, hat sowieso keine Probleme. Auch Barbara und Martin merkt man eine Schwedentour an. Peter hingegen, seines Zeichens Schriftsteller, scheint sich in literarischen Gewässern sicherer zu fühlen. Seine französische Begleiterin Bénédict hatte offenbar am Radfahren ebenfalls mehr Spaß. Im Laufe der nächsten Tage sollten sie sich aber alle zu Könnern entwickeln. Kanufahren-große Liebe der Tschechen Nationalheld Jan Zika Immer wieder Wehre auf der Otava Zeltplatz bei Pisek. Die Sonne spendet hinter Buchen und Birken versteckt, ihr letztes abendliches Licht. Leise plätschert die Otava vor uns dahin. 40 Zentimeter ist sie hier bestenfalls tief. Zu seicht für die Schwimmer unter uns. Es reicht gerade für ein kühles Bad. Die ersten Flaschen Bier machen die Runde. Einige von uns sind im Wald, Holz holen. Wolfgang bereitet die Feuerstelle vor, während Jaroslav mit einem Spaten ein kleines Erdloch aushebt. Später wird er glühende Steine aus dem Feuer holen, sie ins Erdloch geben und in Staniol verpacktes Fleisch dazwischenlegen. Wir freuen uns alle auf den Leckerbissen. Derweil spielen in der Ferne einige junge Tschechen traditionelle Volksweisen auf ihren Gitarren, singen dazu und lassen sich von den tiefen Bässen eines Cellos begleiten. Romantik entführt uns in eine unwiederbringliche Nacht. Am nächsten Morgen bin ich als erster auf, bereit für die verbleibenden Kilometer. Tau überzieht mein Zelt, Nebelschwaden verdecken den Blick zur Otava. Aus dem Nachbarzelt dröhnt gleichmäßiges, zufriedenes Schnarchen. Neben den Kanus stehen die wasserdichten Molkereitonnen, die uns in den letzten Tagen als Gepäckbehälter gute Dienste erwiesen haben. „Heute packen wir sie zum letzten Mal”, denke ich etwas melancholisch und lausche dem beruhigenden Rauschen der Otava, dem Fluß, der mir eine Woche Heimat war… Reiner Wittmann, Reisen entlang der Moldau Die Texte stammen von den oben aufgeführten Zeitungen. |
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