Pressebericht in: FAZ, Dienstag, 9. November 1999

Frankfurter Allgemeine Reisen
 

Reisen mit Goethe / Von Arthur Schnabel

Die Aussichten in Böhmen sind nicht mehr, was sie einmal waren. Vom Goethe-Hain bei Hazlov, auf dam der Dichter immer Halt machte, um die Aussicht zu gonie8en, sieht man nun ein struppig­graues Fichtenband mit der anderen Straßenseite, Und rasende Lkws, deren Luftsog den vorwitzigen Goethe-Pilger fast von dem Granitblock herunterfegt. Die alte Poststraße, die Sachsen mit dem Egerland verband, ist heute eine völlig überlastete Transitstrecke mit allen Errungenschaften der postsozialistischen Ära.

Gleich neben dem Goethe-Stein hat das Etablissement „Lucie” die Pforten geöffnet. Die Prostitution scheint der einzig florierende Gewerbezweig dieser Gegend zu sein. Hazlov, das frühere Haslau, ist eine bizarre Mischung aua Bordell und Dorf. Vor biederen Einfamilienhäusern, die Eva oder Nathalie hei8en, scharren Hühner und spielen Kinder. Im Garten von Haus “Paris” harken alte Leute Ihre Gemüsebeete.

Versenkt man den Blick nicht nur in die Bücher, dann kann eine literarische Tour auf Goethes böhmischen Spuren eine verstörend reale Reise durch eine ebenso beschädigte wie faszinierende Kulturlandschaft werden, in der man unter dem Schutt der Geschichte noch immer den Mythos „Böhmen” zu spüren glaubt – das humane Ideal einer kultivierten und doch geheimnisvollen Natur.

Plutonisten und Neptunisten Etwa an “Komorni hurka”, nicht weit von HazIov: Das ist eine einsame Erhebung in der flachen Landschüssel zwischen Eger und Franzensbad, ein längst erloschener Vulkan der Tertiärzeit. Dieser harmlose Hügel, zu deutsch „Kammerbühl”, war einst heiß umkämpftes Gebiet zwischen Plutonisten und Neptunisten. Das waren keine hussitischen Splittergruppen, sondern zwei geologische Schulen, die sich mit der Entstehung dar Gesteine beschäftigten. Die „Plutonisten” machten Feuer, die „Neptunisten” Wasser dafür verantwortlich. Am Kammerbühl glaubten beide, Argumente zu finden. Elfmal kam Goethe hierher: oft in weiblicher Begleitung, um in heiterer Ernsthaftigkeit die Rätsel der Natur wie der Frauen zu untersuchen. Halb versteckt im Gebüsch findet man noch heute ein Zeugnis dieses Forschungsdrangs: ein klassizistisches Tempeltor sperrt den Schacht ab, den man auf Goethes Veranlassung in die Bergsohle trieb. Vielleicht der erste Forschungsstollen, der aus reiner Neugierde gegraben wurde. Später hat man noch ein Goethe-Profil in den Felsen neben dem Schacht gemeißelt: ..Dem Erforscher des Kammerbühl”

326 Gedenktafeln und 18 Goethe-Denkmäler hat ein mUseumsmann im westlichen Böhmen gezählt. Kaum eine andere Region hat Ihre kulturelle Identitäten so ausschliesslich an eine Person geknüpft. Jeder Bürgermeister und jeder Schullehrer zwischen Marienbad und Kalsbad wollte seinen Goethe. Viele sprichwörtliche “böhmische Dörfer” bezogen Ihren Ruhm aus einer Kaffeepause des Meisters. Auch das 200-Seelen Dorf Wischkovitz beim Kloster Tepl. Es ist ei ne Landschaft wie Seide – wundarbare Alleen schwingen sich kilometerlang als gold-grün getupfte Bänder über sanfte Hügel. Goethes Wanderlied könnte hier enstanden sein: „Von dem Berge zu den Hügeln / niederab das Tal entlang / da erklingt es wie von Flügeln / Da bewegt sich’s wie Gesang”,

1932 stellten die Wischkowitzer im Schulgarten einen Findling mit Gedenktafel auf: eine großartige Feier zu der die ganze Gegend zusammenkam. Heute heißt der Ort Vyskovice und kann zu seiner Rechtfertigung noch ein Haus und eine verfalelne Kapelle vorweisen. VVo früher Häuser und Gärten waren wächst nun in riesigen Stauden die böhmische Plage, der Riesenbärenklau. Wo er sich niederlässt, kriegt man ihn nicht mehr weg, weshalb ihn der tschechische Witz “Bolschewiki” taufte. Auch den Goethe­stein hat er fast schon überwuchert. Niemand käme darauf, in dem Stein, dessen Inschrift abgeschlagen ist, ein Kulturzeugnis zu sehen. Vielleicht sollte man Goethes tröstliches Motto anbringen: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.”

Vielleicht auch die Vergangenheit selbst, die an Orten wie diesen immer noch brennt wie der Bärenklau. Die meisten Goethesteine wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet, als der Konflikt zwischen der tschechischen und der deutschen Bevölkerung Böhmens seinen Höhepunkt erreichte. In diesem Kampf, dessen Schlachtfeld zuerst die Sprache war, sollten sie einen geistigen Grenzwall gegen das sich kräftig regende tschechische Selbstbewusstsein bilden. Goethe als Schutzherr eines pathologischen Nationalismus: welch ein Missverständnis. Da half auch nicht das 1932 erschienene Buch des Prager Schriftstellers Johannes Urzidil, „Goethe in Böhmen”, das Goethes Böhmen als reiche multikulturelle Region charakterisierte. Am Ende hat der pathologische Nationalhass beider Seiten Urzidils und Goethes Böhmen vernichtet.

Urzidil selbst ist haute vergessen, Dabei ist er der böhmische Klassiker schlechthin. Der jüngste aus dem legendären Prager Kreis des Cafe Arco fühlte sich Kafka ebenso verbunden wie Stifter. Der Vater ein Deutscher aus dem Egerland. die Mutter eine Prager Jüdin und die spätere Stiefmutter eine Tschechin: Wer etwas über das alte Böhmen mit seinen Kulturen erfahren möchte, muss Urzidil surreal-melancholische Geschichten lesen. 1938, kurz vor dern Einmarsch der Nazis, besucht er noch einmal das „magische Dorf”, den Geburtsort seines Vaters in einer der stillsten Ecken des Egerlandes: als “letzter Gast”, wie seine im New Yorker Exil entstandene Erzählung heißt. Aus fünf Häusern und einer Kirche bestand Schipin, schon damals ein einsamer Ort. Auf der Karte führt keine Straße dorthin. Ob es den Ort überhaupt noch gibt?

Doch dann findet man einen zugewachsenen Aufstieg. Im Moos zwischen den Bäumen duckt sich ein betonierter Sehschlitz: ein Bunker aus jener Zeit, als sich die Tschecheslowakei auf einen Krieg mit Nazi-Deutschland vorbereitete. Plötzlich ist der Anstieg zu Ende, und zwischen verkrümmten Apfelbäumen leuchtet eine rote Turmspitze. Auf einer Waldlichtung in völliger Einsamkeit stehen eine Kirche und drei Häuser. Ein gepflegtes Idyll statt der erwarteten Ödnis. Unter die alten Apfelbäume gelagert, lesen wir Urzidils “Der letzte Gast”. Ein alter Herr sieht misstrauisch herüber. Dann sagt er „Grüß Gott”, denn er kommt aus München. Einer, der von hier stammt und nun zeitweise auf die Kirche aufpasst, die von den Vertriebenen der Umgebung wieder hergerichtet wurde, Ihre Abgeschiedenheit hat sie überleben lassen.

Kirchenbesuch Nach eingehender Prüfung werden wir hineingelassen. Es ist eine heitere Kirche mit einer kleinen barocken Orgel. Eine Kostbarkeit, wie eine kundige Goethe-Pilgerin erkennt. “Geht Sie noch?” Naja…Und schon ertönt nach einigem Schnauben und Pfeifen “Geh aus mein Herz”, dann, mutiger geworden, ein kleines Bach-Präludium. Der alte Herr hört zu, dann fangen seine Schultern an zu zukken und er geht abseits. Das sind die gefürchteten Sudetendeutschen, die Neubauer-Revanchisten? Es ist nur ein alter Mann, allein mit seiner Erinnerung an Weihnachtsabende, als von allen Seiten her die Menschen mit Fackeln der Kirche zuströmten. Jetzt gibt es eine Messe im Jahr, und der Friedhof soll auch wieder hergerichtet werden, erzählt er. Etwas rührend Vergebliches haftet dieser Kirche an, deren Leben aus einer einzigen Messe im Jahr besteht: Wer wird in ihr beten, sie pflegen und erhalten, wenn diese Generation nicht mehr existiert? Wurde Sie hergerichtet, um wieder zu verfallen? “Wer bloss mit dem Vergangenen sich beschäftigt, kommt zuletzt in Gefahr, das Entschlafene, für uns Mumienhafte vertrocknet an sein Herz zu schließen” Ein kühler, ja ein grausamer Satz von einem der es gern mit dem Leben hielt. “Ja. Goethe hat die Geschichteinteressiert, aber geliebt hat er das Leben. Vor allem hier.” schmunzelt der agile Vizedirektor des Karlsbader Museurns, Dr. Stanislav Burachovic. Dann fällt ein Schatten über ihn. “Na ja, in Karlsbad täte uns ein bisschen mehr Geschichtsbewusstsein gut.”

Burachovic hatte große Pläne zum 250, Geburtstags Goethes. Herausgekommen ist unter großen Schwierigkeiten eine kleine Goethe-Ausstellung im Museum. „Für Goethe gibt’s Geld!” Eine Kulturschande sei das. „Wer hat Karlsbad und Böhmen berühmt gemacht? Goethe!” Aber was will er machen? Die großen Tage Karlsbads sind vorbei, und man kann froh sein, wenn man einigermaßen über die Runden kommt. Von deutschen Tagestouristen und Goethe-Pilgern, die hier einen Kaffee trinken, könnten die bombastischen Hotels und die medizinischen Bad-Einrichtungen nicht leben. Gott sei Dank gibt es Gäste, die sich den etwas angestaubten Karlsbader Luxus leisten, Es sind “die Russen”, wie man hier sagt. Karlsbad ist zum Mekka reicher Geldleute aus Asserbaidschan und Georgien geworden. Der Einfachheit halber kaufen sie Hotels und Kureinrichtungen gleich auf – zum Unbehagen der Tschechien, die nicht umhin können, an die„Bolschowiki” zu denken. Nur, dass heute nicht mehr der Marxismaus-Leninismus die Richtung angibt, sondern der Kapitalismus des wilden Ostens. Die berühmte Bäderstadt, das ist ein offenes Geheimnis, ist eine der wichtigsten Waschanstalten für russisches Mafia-Geld.

Und wo bleibt Goethe? Dr. Burachovic kämpft gerade darum, an einem der zahlreichen Goethe-Häuser eine Gedenktatel anzubringen. Aber das ist schwierig, weil die Fassade von der schreienden Werbefläche einer Wechselstube okkupiert wird, Und Goethe neben Wechselkursen? Doch der Museumsmann sieht die Sache pragmatisch: warum nicht? Schließlich hatte der Olympier die Preise seiner Kuraufenthalte genauso scharf im Blick wie die Metrik seiner Gedichte. An Goethe kommt man in Böhmen eben auch heute nicht vorbei. Nicht einmal im Negativen: So erwähnt der Schriftsteller Ota Filip die spezielle Goethee-Gedenktafel, de ein junger Autor aus Pilsen an seinem Haus angebracht hat „In diesem Haus hat Johann Wolfgang von Goethe nie gewohnt, nie übernachtet. Er blieb hier nie stehen, trank in diesem Haus niemals eine einzige Tasse Kaffee.”

„Begegnung mit Böhmen” veranstaltet neben der „LiteraTour” „Mit Goethe in die böhmischen Bäder” eine Vielzahl weiterer Reisen nach Böhmen und Mähren.


Die Texte stammen von den oben aufgeführten Zeitungen.

 

Mit Goethe in böhmen

Literatur in Böhmen: Goethe

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