Pressebericht im Rheinischen Merkur 4. 6. 1999

Rheinischer Merkur Reisen
 

Stille Tage, schöne Zeilen

Da nahm er das Rasiermesser und schnitt sich die Kehle durch. Nein, nicht ganz, wie er nie etwas ganz gemacht hatte im Leben – außer Literatur. Zuletzt, ganz zuletzt, zögerte er – und der herbeigeschriene Arzt konnte die Wunde noch einmal nähen. Acht
zehn Stunden lebte er noch. Dann starb Adalbert Stifter am 28. Januar 1868, innerlich zerfressen von der Leberzirrhose, die ihm unmäßige Völlerei bei Bier und Braten eingetragen hatte – ein Ersatz für das nichtgelebte Leben. Seine Totenmaske sieht mich an, in seinem Geburtshaus in Oberplan (Horni Plana), wohin die einen unserer kleinen Gruppe gepilgert, die anderen nur gewandert sind. Den Schnitt sieht man auf der Maske nicht, er ist vor der Abnahme mit einem Streifen Papier (seinem Lebenselixier) verdeckt worden.

Wir wollen auf Stifters Spuren im Böhmerwald wandern, Sumava, wie ihn die Tschechen nennen, ein Wort, das in ihrer Sprache eine Mischung aus Wald und Rauschen, Wasser und Sausen ist. Wir, eine kleine Schar aus böhmendeutschen Heimatssehnsüchtigen, jungen Enthusiasten und einem alten Offizier, den die Amerikaner hier 1945 gefangengenommen hatten. Erwin Aschenbrenner (Reisebürochef in Regensburg) und Arthur Schnabl, Stifter Verehrer, Germanist, Fotograf und begabter Vorleser sind unsere Begleiter, beide eigentlich Mittachtundsechziger mit beginnender Resignation über die Zumutungen des Lebens, wie sie auch schal beim dreißgjährigen Stifter begonnen hatte. Daß man aus seiner Heimat, seiner Liebe vertrieben werden kann wie Stifter aus der lebenslangen vergeblichen Liebe zu seiner Fanny, das ahnen die beiden auch. Und die Vertriebenen aus unserer Gruppe wissen es.

Dilettant und Stümper
Arthur Schnabl liest im Geburtszimmer Stifters eine Passage aus „Granit”, in der der kleine Adalbert, weil er sich Wagenfett von einem Hausierer auf die Füße hat schmieren lassen, aus kindlicher Freude am Herummantschen, von der Mutter verprügelt wird. „Diese fürchterliche Wendung der Dinge”, das Gequältwerden ohne Wissen, warum, das ist schon der ganze Stifter in seiner Trostlosigkeit ohne Gott, den die Natur wenigstens vertreten soll und doch nicht kann und eben dadurch die Gottesfeme nur vertieft.
Zehn Minuten den Kreuzberg hinauf zur Gutwasserkapelle. Da steht Stifter auf seinem Denkmalsockel: Embonpoint fast schon ein veritabler Bauch, den großen Wanderhut in der Hand. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Denkmal entfernt, auch Stifter sei schließlich ein Vorläufer der Nazis gewesen; heute ist dieser Unsinn wieder gutgemacht. Und dann natürlich das Gruppenfoto, keck schauen die einen, ehrfürchtig-verehrend die anderen, spöttisch nur einer: Arthur Schnabl hatte die Unvorsichtigkeit begangen, alle Reiseteilnehmer einzuladen, ihre Lieblingslektüre mitzubringen und ebenfalls vorzulesen. Ich zog den lungenkranken, hastigen, sich keinen Atem gönnenden Thomas Bernhard aus der Tasche („Alte Meister”): „Daß sich der Mann am Ende umgebracht hat, ändert an seiner absoluten Mittelmäßigkeit nichts. Ich kenne keinen Schriftsteller auf der Welt, der so dilettantisch und stümperhaft und noch dazu so borniert engstirnig ist wie Stifter und so weltberühmt gleichzeitig. Wenn ich bedenke, wie die österreichischen Lehrerinnen und Nonnen ihren Stifter auf dem katholischen Nachtkästchen liegen haben als Kunstikone neben ihrem Kamm und neben ihrer Zehenschere …, wird mir schlecht.” Und so über 15 Seiten. Fatal zuerst die Reaktion, dann leise humorvoll, also verzeihend, dann lauthals lachend. Unsere kleine Schar hatte durch Entzweiung zusammengefunden – die beste „Gruppendynamik”, die es gibt.

Geld für Spitzeldienste
Natürlich wandern wir zum Plöckenstein (Plechy), Stifters Lieblingsberg, nahebei. Am Forsthaus von Hirschbergen (jeleni) vorbei, vorbei an dem großen Tunnel des Schwarzenbergschen Schwemmkanals, der auf Dutzenden Kilometern die Moldau mit der Donau verbindet. Dann durch feuchtes Walddunkel und über immer mehr Granit im Steinernen Meer zum Plöckensteinsee empor. Arthur liest auf einer Rast: „Möchte es uns gelingen, nur zum tausendsten Teile jenes schwermütig schöne Bild dieser Waldtale wiederzugeben, wie wir es selbst im Herzen tragen, seit der Zeit, als es ums gegönnt war, dort zu wandeln und einen Teil jenes Doppeltraumes zu träumen, den der Himmel jedem Menschen einmal und gewöhnlich vereint gibt, der Traum der Jugend und der ersten Liebe.” Da wird es stiller in der Runde, und das Jausengemampfe stockt.

Weiter hinauf durch immer schrofferes Gewurz, Geklipp und Geklüft. Waldeinsamkeit, Wipfelgerausch, gleichmäßiger Wegeschritt. Und dann plötzlich auf 1050 Metern – vor uns die Sanftheit und Ruhe des stummen Sees, der uns mit seinem großen silbernen Blick unverwandt anschaut. Zur „Strafe” muß ich lesen, wieder aus dem „Hochwald” und tue es gern: „Oft entstieg mir ein und derselbe Gedanke, wenn ich an diesen Gestaden saß: als sei es ein unheimliches Naturauge, das mich hier ansehe – tiefschwarz – überragt von der Stirne und der Braue der Felsen, gesäumt von der Wimper dunkler Tannen – drin das Wasser regungslos: wie eine versteinerte Träne”

Natürlich hat Bernhard, der „größte Übertreibungskünstler aller Zeiten”, wie er sich selbst einmal genannt hat, unrecht. Stifter hat die Natur beschrieben, er hat sie nicht verkitscht. Im Gegenteil. Das wird uns hier oben bewußt. Das ist das Wunderbare dieser Wanderwoche: Bewegung des Körpers durch kräftiges Ausschreiten im unendlichen Waldmeer und Bewegung des Gemüts durch Lesungen der „Landesautoren” am Ort der Handlung. Dazu oft am Abend in unserer bescheidenen Pension Philippshütten oberhalb 1100 Metern – das böhmische Bier, die Knödel, der Gulasch, die süßen Golatschen. Nahrung des Leibes und der Literaturlust – eine köstliche Kombination.

Herauf kamen wir aus Markt Eisenstein (Zelezna Ruda), wo Vietnamesen Ramsch verkaufen und Neon-Nachtbars trübes, schales Glück verheißen. Dann Gutwasser bei Hartmanitz, wo die Kapelle des heiligen Gunther steht, eines gottseligen Eremiten, der von den lauwarmen Lüsten der Moderne noch nichts wußte. Gegenüber der Kapelle auf der Hauswand noch das verwaschene, kaum noch lesbare „Volksschule”, daneben „Gasthaus zum Hirschen”. Und der erste Friedhof: „Ich hab ausgelitten” steht für einen „Spiegel-Poliermeister” auf dem Stein; dann der „Besitzer des Freibauernhofs Gron”, eine „Landswirtsgattin aus Ebene”, eine aus Obermoldau. Tote Lebensbäume, blaue Lupinen, verrostete Eisenkreuze. Die Uhr am großen Zwiebelturm der Kirche ist fünfundzwanzig nach zwölf stehengeblieben. Hier ist schon die Tragödie des Landes sichtbar: Leer, verwüstet, gesprengt, verkommen liegen die Dörfer der vertriebenen Deutschen, einst war hier Sperrgebiet und Todesstreifenzone. Bei Tusset (Stozec) liest uns Arthur aus Ota Filips „Dörfer ohne Kirchenglocken”: „Für jeden gefangenen Grenzgänger gab es eine Belohnung zwischen 500 und 1000 Kronen. 90 Prozent der Bewohner in den grenznahen Dörfern verdienten ihr Taschengeld als Spitzel. Die Leute hier rissen sich um diese schmutzigeArbeit.”

Wie es zuging im Egerland
Der dritte Wandertag, im Regen, führt uns nach Bergreichenstein (Kasperske Hory), der alten deutschen Goldknappenstadt, die im Spätmittelalter in höchster Blüte stand. Bei Rehberg der strahlende Durchbruch der Sonne -Sofort wird es warm wie im Sommer, die rauchenden Nebelschwaden zerreißen. Aus Bergreichenstein sind 99 Prozent der Deutschen vertrieben worden. Die Nikolauskirche außerhalb des Ortes zeigt deutsche Baukunst des Spätmittelalters: drei Kirchenschiffe, ein imposantes Presbyterium, eine Holzdecke im Mittelschiff mit dem österreichischen Doppeladler im Zentrum und der Jahreszahl 1313, eine Anna selbdritt in der Nebenkapelle. Ein geschnitztes Fegefeuer verschlingt unter dem Altar die armen Seelen. „Realitätenbesitzersgattinnen” liegen auf dem aufgelassenen Friedhof, manche allein in großen Familiengräbern, Ende 1944 das letzte Mal „belegt”.

In der wärmendere Sonne, gelehnt an die alte Friedhofsmauer, mit Blick auf die Ruine Karlsberg, liest Arthur eine Geschichte von Johannes Urzidil (18961970), dem Prager, der soviel zur Vermittlung zwischen Deutsch-Böhmen und Tschechen getan hat. Die Geschichte erzählt von einer „schönen Leich” im Egerland, wie’s zuging am Gottesacker, damals. „Ja, so war es wirklich!” sagt unsere Elisabeth, die Sudetendeutsche, die mit zwanzig Kilo Handgepäck 1945 den „Transfer” erleben mußte, wie es im tschechischen Tourismusführer noch immer heißt.

Felsen als Bühne
Jetzt ist alles modern und aufgeschlossen im Böhmerwald. In Unterreichenstein gehen wir zur Mittagsbrotzeit ins „Waikiki”. Da gibt es Musikterror aus der „Juke-Box”, ein „Hühnerfleisch Peking”, ein “Eis Kongo”. Cool saugen die schicken Tschechen an ihrem „Tschik”, wie die Österreicher die Glimmstengel nennen. Nein, lieber weiter zum Drachenfelsen bei Zwofischen (Svojse), tiei im Wald mit roten Giftpilzen, Flechten, Moosen, Farnen, Zwergkiefern. 500 Meter lotrecht unter uns das nur noch erahnte Band der Moldau, die Sumava rauscht, das Licht sinkt, die Schatten werden länger. Felstrümmer sind unsere Bühne, dampfende Nebelfetzen recken graue Finger nach uns aus dem Schwarz des schweigenden Waldes. Der Wind kommt aus dem Bayerischen her. Erwin Aschenbrenner liest uns Britting: „Das ist nicht ein Wald wie sonst einer/ Der Böhmische Wald/ Er ist so schwarz wie sonst keiner/ Es hat ihn noch keiner gemalt/ Wie er ist./ Und der Winter ist lang/ Und der Sommer ist schwer/ Vom Grün und vom Gold/ Das wipfelab rollt. ..”

Stille Tage, schöne Zeilen sind das. Nicht nur Stifter und Karl Klostermann („Böhmische Skizzen”), auch Bohumil Hrabal, Karl Capek, Josef Holub („Der rote NepomuK) haben wir genossen-und bedacht. In Antigel, das so heißt, weil es hier nur einen Schmelztiegel gab, sind wir gewandert, den Hammerbach entlang zur Turnerhütte, nach Böhmisch-Röhren (Ceske Zleby) am Goldenen Steig, nach dem halbzerstörten Guthauser, wo Capeks „Eine Haltestelle” spielt. Im älplerisch wirkenden Waller haben wir in der trostlosen Bahnhofsgaststätte Bier getrunken, in Krumau (Cesky Krumlov) – ach, von dieser Perle ein andermal. „Gott war guter Laune”, schreibt der Prager Rilke, „geizen ist doch wohl nicht seine Art; und er lächelte: da ward Böhmen reich an tausend Reizen.” Und seine „Volksweise” klingt uns ewig aus dem großen Walde nach: „Mich rührt so sehr/ böhmischen Volkes Weise,/ schleicht sie ins Herz sich leise,/ macht sie es schwer. Magst du auch sein/ weit über Land gefahren,/ fällt es dir doch nach Jahren/ stets wieder ein.”

Peter-Meier-Bergfeld

Die Texte stammen von den oben aufgeführten Zeitungen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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