Pressebericht in der SONNTAG AKTUELL 24.4.05 : Slowakei Aktivreisen

SONNTAG AKTUELL

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Mährische Farbenlehre

Es gibt eine Gegend, die liegt in der Mitte Europas und trotzdem ganz am Rand. Große Dichter wurden dort geboren, doch erinnert man nur die Orte ihres Todes. Mähren ist etwas für lahme Wanderer, für schnelle Leser und sentimentale Weinschlürfer. Kein Wunder, dass diese Reise den Sonntag-Aktuell- Touristik-Preis gewonnen hat.

Den Svjatek, den kann man nicht vergessen. Nach einer mühsamen Morgenwanderung über die nebelverhangenen, rutschigen Bergpfade der Palava, empfängt er uns in seinem zugemüllten Winzerhäuschen. Und mittendrin dieser lange, schwarze Holztisch, den Svjatek wie ein vorzeitliches Kultobjekt umtanzt, dabei verschämt lachend, sich abwechselnd den Bauch streichelnd und auf die Stühle zeigend. Sedneti si, prosim, bittet er uns, setzen sollen wir uns – und zwar schnell. Vielleicht, weil wir viele sind und zudem hungrig und durstig dreinschauen und das immer die allerbesten Voraussetzungen für eine ganz normale mährische Schmauserei sind. Dann wird aufgetragen: Weißbrot, Kesselfleisch und reichlich bilé vino, weißen Landwein von Svjatek.

Einige Sonnenstrahlen plagen sich durch die verstaubten Fenster hinein, um der schwachen Glühbirne beizustehen. An den Wänden hängen die Reliquien eines mährischen Zynikers: religiöser Wallfahrtskitsch und Plunder aus realsozialistischen Zeiten. Madonnen und Kruzifixe auf der einen, Helden der Arbeit und rote Sterne auf der anderen Seite. Svjatek glaubt an beides nicht mehr. Mit seinen 52 Jahren hat der ehemalige Schauspieler und Lyriker aus Brno den Glauben an Ideologien und Religionen irgendwo im Weinberg seines Vaters verloren, den er hier in der Palava zum Erhalt eines bescheidenen, aber zwanglosen Lebens bewirtschaftet. Ein intellektueller Bauer, im besten Wortsinne. Na zdravi, zum Wohl, prosten wir uns zu. Überm Eingang baumeln getrocknete Maiskolben, und eine struppige Katze putzt sich das Gesichtchen. Svjatek holt einige Gedichtbände, mit Pathos liest er Eigenes und Fremdes vor, und Lenka, unsere tschechische Reisebegleiterin, übersetzt so frei wie es nur geht. Der Raum und unsere Ohren füllen sich mit Konsonanten, R-Laute rollen klangvoll wie große Weinfässer durch den Keller. Und irgendwann verlässt man Svjateks kreatives Chaos, lässt man Mähren nach einer Woche der Wanderungen, Begegnungen und Lesungen hinter sich. Wartet in der Schalterhalle eines kleinen Bahnhofs auf den Schnellzug nach Wien.

Und nimmt Bilder mit nach Hause, die nicht einmal das beste Kameraobjektiv je hätte einfangen können. Im geistigen Gepäck – Erinnerungsgemälde mit satt aufgetragenen Pinselstrichen und darunter hervorblinkenden Versen und Sätzen. Als habe ein unbekannter Maler keine Leinwand zur Hand gehabt, sondern eine riesige Buchseite, voll der Gedichte und Geschichten, die aus Mähren stammen und von Mähren erzählen. Tagelang waren wir in Südmähren unterwegs gewesen. Durchstreiften die Bücher, die Wälder und Städte, schüttelten viele Hände, streichelten viele Schafe und Katzen, überwanden karstige Anhöhen und Berge von Knödel. Mähren war eben ein bisschen so wie Svjatek selbst, wie sein schwarzer Tisch, wie das Gelb seines Weines und der Maiskolben, schließlich wie das Meer der Sehnsucht in seinen hellen Augen. Eine kleine Rhapsodie in Blau. In Schwarz und Gelb.

Also blau. Wie jene Stunde, als die Sonne zwischen aufgescheuchten, aber noch schüchternen Regenwolken langsam über den Dächern von Brno niedersinkt und der ganzen Stadt einen azurnen Anstrich verleiht. Hoch droben sitzen wir, in einem Dachcafé eines gar nicht bescheidenen Renaissancebaus mit freiem Blick über die Dächer der mährischen Hauptstadt und unsere 18 Tassen mit Großen und Kleinen Braunen, die vor uns auf den Tischen famos wienerisch dampfen. Zum warmen Blau des Gewitterhimmels gesellen sich Robert Musils eisig blaue, von
scharfem Intellekt durchdrungenen Sätze aus seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, woraus Arthur, unser begeisterter Literat und Reiseführer, irgendwann zu Beginn unserer einwöchigen Reise durch Mährens Städte und Dörfer vorträgt. Andächtig liest er vor, und wir rücken zusammen. Die ersten Tropfen ploppen gegen die Scheiben. Die Kellner wundern sich, denken wohl an etwas spontan Sektiererisches und lassen uns in Ruh’. In Brno, dem einstigen Brünn, welches das Vorbild „der großen Provinzstadt“ im Meisterwerk abgeben könnte, verbrachte
Musil wie auch sein sonderbarer Held Ulrich „kleine, aber wenig angenehme Teile seines Lebens“, eben die Jugendzeit.

„ Diese Stadt hatte eine Geschichte, und sie hatte auch ein Gesicht, aber darin passten die Augen nicht zum Mund oder das Kinn nicht zu den Haaren, und über allem lagen die Spuren eines stark bewegten Lebens, das innerlich leer ist.“ Tatsächlich fällt es
bei den Spaziergängen schwer, sich in das wuselige Zentrum der Textilindustrie auf den ersten oder gar zweiten Blick zu vergucken. Man bleibt unberührt, hier, auf halbem Weg nach Irgendwo, wo 1993 die friedliche Trennung Tschechiens und der Slowakei besiegelt wird; wo die meisten der 400 000 Einwohner nach Feierabend in unheimlichen Satellitenvorstädten verschwinden; wo zwischen weiträumigen Plätzen und den quietschenden Straßenbahnen höchstens die Ahnung der nervösen, kulturtrunkenen Metropolen Wien und Prag erspürt wird. Einzig in diesen blauen Minuten gewinnt sogar das wenig harmonische Gesicht Brnos einen gewissen Reiz.

Und es wird schwarz. Schwarz wie die Trauer, die einem in Boskovice ins Herz kriecht, wo Tage später Herr Bránsky auf uns wartet, am Tor zum alten jüdischen Getto. Boskovice liegt etwa 40 Kilometer nördlich von Brno und gilt als „mährisches Jerusalem“, weil hier seit dem 18. Jahrhundert bekannte Talmudisten aus ganz Europa lehrten. Herr Bránsky, der Historiker, ist 80 Jahre alt und hat das Ende der Judenstadt selbst erlebt. Er zeigt uns das ganze Viertel, die Synagoge, den jüdischen Friedhof. Am Elternhaus des fast vergessenen Hermann Ungar bleiben wir stehen. Seine Erzählweise weist Ähnlichkeiten mit dem Werk des Zeitgenossen Kafka auf: Angstzustände, Schuld und Willkür durchziehen seine Prosa wie ein dunkelroter Faden. Wieder eine Lesung, aber diesmal tut man es im Stillen, auf einer Bank oder einem Mauervorsprung.

Ungar ereilte die Gnade des frühen Todes, und so musste er nicht denselben Wahnsinn durchleiden, der seiner Familie und den anderen Boskovicer Juden angetan wurde, als sie 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden. In Mikulov, dem früheren Nikolsburg, unweit der österreichischen Grenze, liegt der jüdische Friedhof etwas versteckt am Hang über der Stadt. Jemand aus unserer Gruppe entdeckt zwischen den Gräbern einen Baum, dessen Krone sich unter der schweren, süßlich duftenden Last biegt. Vielleicht ist es noch derselbe Stamm, den der bekannteste mährische Dichter Jan Skácel in seinem Gedicht auf diesen morbid- schönen Ort besingt: „Die ernte ist überreif und fällt ab / Unzählige kleine sonnen rollen durchs gras / beim grab von Simon
und Rebekka / mit spinnenschrift / trug sich die zeit hier ein in die steine.“

Die dunklen Töne von der Palette dominieren, doch können sie nicht die goldenen, kakanisch gelben Tupfer übertünchen, die ü berall dem Auge schmeicheln. Das würzige tschechische Bier Starobrno, der kräftige Wein von den Rebhängen der Palava und die Palatschinken, die in Wirtsstuben fettig glänzen.

Und natürlich ist da noch diese wie eine Strudelkruste dahinblätternde Fassade von Schloss Zdislavic: der Geburtsort von Marie von Ebner-Eschenbach. Wenige Schritte entfernt thront das restaurierte Mausoleum der 1916 verstorbenen Schriftstellerin in einem idyllischen Garten. Eine Seltenheit, handelt es sich doch um das erhaltene Grab einer Österreicherin. Die Spuren der deutschsprachigen Kultur findet man in Mähren meist auf Papier oder mündlich überliefert – die deutschen Friedhöfe wurden hingegen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört.

Eigentlich kann man das Gebäude gar nicht betreten. Doch Arthur, unser Reiseführer, kennt wieder einmal jemand, der wiederum jemand kennt, der einen Schlüssel besitzt, und dieser Schlüssel öffnet ein Schloss in einem Seitentrakt. Bis vor kurzem
war im Schloss eine psychiatrische Anstalt untergebracht, in den hohen, kahlen Räumen hängt noch der Geruch von Desinfektionsmitteln. Dann die Überraschung: Hinter einer schmucklosen Tür wartet eine andere Welt, der lange Ballsaal. Dessen Stuckverzierungen, Spiegelwände und blasse, antikisierende Fresken beschwören immer noch eine so ferne Zeit herauf. Auf diesem Laufsteg des mährischen Hochadels darf man erahnen, welchen weiten Weg die hochwohlgeborene Ebner-Eschenbach mit ihren liberalen, die Klassen versöhnenden Erzählungen wie „Die Großmutter“ einst gegangen war. Heute tanzen nur noch die Fliegen närrisch an den Fenstern.

Am Ende dieser literarisch-kulinarischen Wanderwoche durch die blaue, schwarze und goldgelbe mährische Provinz steht man also ermattet, mit verschlammten Stiefeln auf einem mittelprächtigen Bahnhof in Breclav. Erinnert sich an die kräftigen Pinselstriche. An die Berge der Palava mit ihren blökenden Schafen, die wieder im Nebel verschwinden, der vom Thajer-Stausee aufsteigt. An Svjatek, der sich wahrscheinlich noch an einem Vers versucht und doch heimlich den verlorenen Sozialismus beweint. An Herr Bránsky, der nochmals im Boskovicer Stadtarchiv nach jüdischen Spuren stöbert und noch ein paar gesunde Jahre erhofft. Und in einer Mikulover Pivnica bekommt gerade ein hungriger Mensch sein wohlverdientes Biergulasch mit den luftigen Serviettenknödeln auf den Tisch. Der Schnellzug nach Wien hat leider keine Verspätung.

von Tomo Pavlovic, aus SONNTAG AKTUELL

Die Texte stammen von den oben aufgeführten Zeitungen.

 

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