Pressebericht in “Fairkehr” 4/2001: Urlaub in Mähren

Fairkehr Reisen 

Die Stille des Hollunders

Die Anreise ist lang, mit dem Nachtzug bis Prag und dann noch einige Stunden in einem schleichenden Intercity bis Brünn, tschechisch Brno. Der Gepäckschalter mit der kittelbekleideten älteren Frau erinnert an sozialistische Verwaltung. Sie drückt uns einen sorgfältig ausgefüllten Zettel in die Hand. „Begegnung mit Böhmen”, das ist Programm und Berufung für Erwin Aschenbrenner. Der gelernte Kulturwissenschaftler hat ein Völkchen von Engagierten um sich geschart: Deutsche und Tschechen. Arthur Schnabl, Literaturwissenschaftler und Historiker und Lenka Hubackova, Touristikfachfrau und „Vorzeigetschechin”, wie sie lachend bekennt, sind zwei davon. Sie begleiten unsere Reise.

„Begegnung mit Böhmen” bedeutet immer auch Begegnung mit Menschen. Die ganze Woche vor allem mit Lenka, die uns als tschechische Reiseleiterin ihr Land nahe bringt. Sie erzählt etwa die Geschichte des blauen Orion-Sterns: „Alle bekamen ein Schreiben der tschechischen Schokoladenfirma Orion: Wer den Papierstern in sein Fenster hängt und vom Schokoladenteam entdeckt wird, erhält einen Riesenvorrat der Orion-Produkte geschenkt.” Wir entdecken die Sterne überall, selbst im entlegensten Dorf. Mähren, das ist viel Natur. Es ist April, wir laufen durch den noch winterdunklen Mährischen Karst. Ein Wald, durchzogen von Schluchten, Tropfsteinhöhlen, mit klaren Bächen und steilen Anstiegen. Erste Gespräche entspinnen sich mittags im Waldgasthaus am Kaminfeuer, bei der berühmten tschechischen Knoblauchsuppe.

Mähren, das ist Dichtung. Für diesen Teil der Reise ist Arthur zuständig. Er liest vor einem Höhleneingang eine Szene aus einem Jugendbuch und vor unseren Augen ersteht der Kampf der Höhlenbewohner mit einem Bären. Gedichte und kurze Erzählungen begleiten uns während der ganzen Reise: Im Bus, beim Besuch des jüdischen Ghettos in Boskowice, auf dem Heiligen Berg von Mikulov, während die Abendsonne auf Weinberge und Karstfelsen scheint und wir im Gras sitzen. „Die ursprüngliche Art, Dichtung wahrzunehmen”, sagt Arthur. Früher habe man sich Geschichten immer in einem Kreis von Zuhörern erzählt. Mähren, das ist Essen, süß und kalorienreich. In Olmütz lernen wir Tschechisch nach der Speisekarte: Bramborové Knedliky etwa, Kartoffelklöße, und Palacinky, nur eine der vielfältigen süßen Mehlspeisen. „Die Kartoffeln kamen erst mit den Brandenburgern hierher”, erklärt uns Arthur, daher der Name.

Vieles hier erinnert an Deutsche. Im Mittelalter bereits wurden sie gerufen, um mit fortschrittlichen Methoden Produktion und Technik zu entwickeln. Ein Nebeneinander von tschechischen, deutschen, österreichischen, christlichen und jüdischen Einflüssen existierte über Jahrhunderte. Mähren, das ist auch die nationalsozialistische Geschichte. „Ich habe die drohenden Fäuste der Nachbarn noch vor Augen”, erinnert sich Frau Jidova an den nächtlichen Abtransport aus dem kleinen mährischen Dorf nach Theresienstadt. Damals war sie acht Jahre alt, deutsche Jüdin. Seit langen Jahren wohnt sie nun in Olmütz, verheiratet mit einem tschechischen Offizier. Ist sie Deutsche, Tschechin, Jüdin? „Ich weiß es nicht”, zuckt sie mit den Schultern, „vielleicht alles zugleich?” Gefragt nach dem Zusammenleben vor der Katastrophe der Deportation, antwortet sie: „Es ist immer alles gut gewesen.” Und fügt nachdenklich hinzu: „Es braucht seine Zeit, die Dinge zu verarbeiten.” In den letzten Jahren sei es leichter geworden, über ihre Geschichte zu sprechen – auch wegen des offeneren politischen Klimas.

Mähren, das ist auch die Geschichte der Vertreibung. Arthur erzählt an einem langen Kneipenabend von einem Reisegast, der sich leidenschaftlich über die verloren gegangene Heimat entrüstete, bis ihn Lenka in den Arm nahm: Sie könne nichts dafür, dass Tschechen heute in den ehemaligen Häusern der Deutschen lebten. Gerhard, geboren im heutigen Tschechien, in Bayern lebend, bekundet sein neutrales Interesse: „Ich habe keine Heimatgefühle”, sagt er, „mich interessiert nur das Land und die Leute, wie sie heute hier leben.” 1930 lebten etwa 800000 Deutsche neben 2,6 Millionen Tschechen in Mähren, davon 20000 Juden. „Das nationalsozialistische Protektorat Böhmen und Mähren’ verschärfte die entstandene Konkurrenz zwischen Tschechen und Deutschen”, erklärt unser Historiker Arthur, „die tschechischen Nationalgefühle wurden verletzt.” In einer gewaltsamen Aktion nach Kriegsende mußte die deutsche „Minderheit” innerhalb von Tagen das Land verlassen. Eine schwierige Geschichte, die Deutsche und Tschechen verbindet und gleichzeitig trennt, auch heute noch.

Die Mährische Toskana
Mähren ist Ruhe, Sanftheit, sich langsam verändernde Landschaft – von der hanakischen Ebene um Olmütz bis zu den Weinbergen im Süden. „Die hanakischen Bauern galten als langsam und dumm”, sagt Arthur im Bus, als wir auf den Heiligen Berg bei Olmütz fahren. Oben mit Blick auf die tischflache Ebene rundum liest er noch einmal das Gedicht von der Essiggurke, die ein Bauer seiner liebsten vom Markt mitbringt, „weil du so brav bist.” Mähren ist ein Land zwischen Böhmen, der Slovakei, zwischen Polen und Österreich, von dem der tschechische Dichter Jan Skácel sagt, die mährische Nationalhymne sei die Stille, die Pause, wortlos, wie auch die Mähre, eigentlich kein Volk seien. Jan Skácel ist Arthurs erklärter Lieblingsdichter; aber auch andere lernen wir kennen: Hermann Ungar, geboren im jüdischen Ghetto in Boskowice, dem geistigen Zentrum der Juden in Mähren, Ferdinand von Saar, geboren in Brünn und Mitbegründer der österreichischen Moderne.

Weiter geht’s in die Mährische Toskana, Grüne Hügel, blühende Obstbaumwiesen und plötzlich ist es Frühling geworden: weiße Magnolienbäume blühen um die Wette mit knallroten Tulpen und blauen Hyazinthen in den Vorgärten des kleinen, unscheinbaren Dorfes Zdislawice, durch das wir wandern, eins der vielen kleinen Dörfer, die zu einem der unzähligen Schlösser Mährens gehören. Lenka schafft es auf geheimnisvolle Weise, den Schlüssel zum Schloß aufzutreiben, Ergebnis ihres beiläufigen Gesprächs mit alten Frauen, die uns neugierig von ihrer Bank beobachten. Improvisation gehört dazu, denn Schloß und Park sind in Privatbesitz und stehen zum Verkauf. Marie von Ebner-Eschenbach lebte hier, eine deutschsprachige Schriftstellerin. Im sonnigen Park sitzend, hören wir eine ihrer Geschichten, in der sie das Leben der armen Häusler, der Bauern und Hirtenbuben beschreibt. Literatur am historischen Ort. Mähren ist „die Stille des Holunders”.

Claudia Nietzel: Urlaub in Mähren

Die Texte stammen von den oben aufgeführten Zeitungen.

 

 

 

 

 

 

 

 

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