Pressebericht in “Geo-Saison” 2/2003

Geo Saison Reisen
 

Böhmens Dichterwald

Geographie
Einst galt das ganze Gebirge, das sich zwischen dem Fichtelgebirge in Bayern und dem Mühlviertel in Österreich von Nordwesten nach Südosten erstreckt, als »Böhmerwald«. Er ist geographisch gesehen das größte zusammenhängende Waldgebiet Mitteleuropas. Das »Grüne Dach Europas« wurde 1999 von den Naturfreunden zur »Landschaft des Jahres« erklärt. Im engeren Sinne meint Böhmerwald jenen Bergzug, der nordöstlich der deutsch—tschechischen Grenze parallel zum Bayerischen Wald verläuft: »Šumava« sagen die Tschechen, »die Rauschende«. Durch die Šumava führt die beschriebene Wanderung.

Naturschutz
690 Quadratkilometer des Böhmerwalds in Tschechien wurden 1991 zum Nationalpark erklärt. Weitere 994 Quadratkilometer sind Naturschutzgebiet. Allerdings gibt es Versuche, die Grenzen des Nationalparks aufzuweichen. Eine Investorengruppe versucht, den Bau von Skiliften am Hochficht durchzusetzen. Und ein Gesetz zur Rückgabe von Gemeindeeigentum machte es möglich, dass dort, wo zehn Jahre lang kein Mensch Zutritt hatte, wieder Holz geschlagen wird.

Veranstalter
Die beschriebene Reise LiteraTour Böhmerwald wird durchgeführt von Begegnung mit Böhmen. Sie beginnt in Bayerisch Eisenstein (Anreise auf eigene Kosten, am besten mit dem Zug) und dauert eine Woche. Im Preis enthalten sind sieben Übernachtungen mit Halbpension, Transport mit einem Kleinbus, alle Führungen und das komplette literarische Programm: 98-seitiges Reiselesebuch vorweg, wohlsortierter Büchertisch in der Unterkunft, Lesungen, Treffen mit einem tschechischen Autor. Übernachtet wird zunächst in der höchstgelegenen Pension des Böhmerwaldes in Filipova Hut’, dann in einer Privatpension in Lenora. Die Gruppen haben höchstens 16 Teilnehmer und werden von zwei Begleitern betreut. Preis: 530 €.

Info:

Begegnung mit Böhmen UG (haftungsbeschränkt)
Katka Karl Brejchová
Bruderwöhrdstr. 15b
D 93055 Regenburg

Tel: (+49) 0176/7289 8751

Email: m@boehmen-reisen.de


Nein, Böhmen liegt nicht am Meer, wie Shakespeares Fantasie es im »Wintermärchen« wollte. Aber Böhmen hat ein Meer, wenn man sich beim Blick vom Drachenfelsen hoch über dem Tal der Otava der eigenen Fantasie überlässt: Hügelauf, hügelab wogt in sanften Wellen ein schwarzgrüner Ozean aus Fichten, gesprenkelt vom Lindgrün verstreuter Laubbauminseln, gekrönt von den blaugrünen Zacken der Wellenkämme. »Das ist nicht ein Wald wie sonst einer, der Böhmische Wald. Er ist so schwarz wie sonst keiner, es hat ihn in seiner schwarzen Gewalt noch keiner gemalt wie er ist … « Ganz ohne Pathos trägt Arthur Schnabl die Huldigung des Schriftstellers Georg Britting vor. Wir sitzen auf den warmen Steinblöcken in der Abendsonne, blicken über die Täler und hören zu, wie unser Reisebegleiter Sprache und Landschaft zu einer Einheit werden lässt.

Wenngleich es einem vom Drachenfelsen aus so erscheinen mag und Karel Capek, der berühmteste Autor der Vorkriegs Tschechoslowakei, in der »unendlichen Länge« der Wälder sogar »die lange, rauschende Zeit« vernahm, besteht der Böhmerwald nicht aus lauter Bäumen. Die Fichtenforste machen öfter einmal Pause, für Hochmoore, Weiden, ausgedehnte Felsenfelder, Bergflüsse gurgeln in ihrem steinigen Bett der Moldau oder Donau zu, Gletscherseen aus der Eiszeit verstecken sich in den Hochtälern. Menschen hat es wenige: Auf jeden der 2100 Bewohner des Nationalparks im tschechisch -bayerisch-österreichischen Grenzgebiet kommen rund 33 Hektar Fläche. Und doch finden sich überall die Spuren der Vorfahren, denen der Wald Geschenk war und Last, Ort großer Gefühle und gefährlicher Arbeit. Diesen Spuren wollen wir folgen, geleitet von den Werken der Schriftsteller, die von der rätselhaften Aura des Böhmerwalds fasziniert waren. Wir: Das sind fünf Wanderer zwischen 34 und 76 und unsere Guides Arthur Schnabl und Radka Neuzilová, die 28-jährige Germanistikstudentin aus Prachatice, die über das Sprichwort »Das sind für mich böhmische Dörfer« nur lachen kann. Sie kennt sie alle.

Bei den Dichtern steht der Böhmerwald von Wurzel bis Wipfel in Saft und Kraft. Wir erwarten nicht, ihn überall noch als Idylle vorzufinden. Aber oben am Breznik, dem Pürstling, erschrecken wir doch: Statt sattgrüner Fichten säumt eisgraues Gestrüpp die sumpfige Hochebene; der Borkenkäfer hat das Baumleben ausgelöscht – eine Naturkatastrophe noch nie dagewesenen Ausmaßes. Noch nie? Radka weiß es besser, sie hat Karel Klostermann studiert, den Chronisten des nördlichen Waldes am Ende des 19. Jahrhunderts. Er berichtet von einer »Borkenkäfercalamität«, die gewaltige Fichtenforste niederrieseln ließ – zwischen 1872 und 1874 war das. Radka ergänzt, was Klostermann noch nicht wusste: Ursachen der Katastrophe waren damals (und sind bis in die jüngste Zeit) der Raubbau an der Natur und das mangelnde Verständnis ihrer Zusammenhänge. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte das Adelsgeschlecht der Schwarzenberger den Wald dezimiert und klafterweise über einen eigens erbauten Kanal nach Wien und Budapest geschwemmt. Die Herren ließen zwar wieder aufforsten, unseligerweise aber mit schnell wachsenden Fichtensorten aus tieferen Lagen, die sich als anfällig für Windbruch erwiesen. Als 1870 ein Sturm hineinfuhr und wüste Schneisen schlug, fanden die Schädlinge im geworfenen Holz ein ideales Quartier. Das wurde dem Borkenkäfer dann durch die Orkane Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erneut angeboten. Die Spuren der Vernichtung werden nicht so bald überwachsen sein.

Bei Horaská Kvilda gehen wir einen tief eingetrampelten, stock- und steinübersäten Weg durch den Wald. Mehr ist nicht geblieben vom »Goldenen Steig«, jenen Handelsstraßen, die einst Böhmen und Bayern von Prachatitz bis Passau verbanden. Im Mittelalter waren sie wirtschaftliche Lebensadern, erfahren wir aus einer Schilderung des Schriftstellers und Volkskundlers Paul Praxl. Fast glauben wir, die fröhlichen Tiroler Weinhändler und die böhmischen Kaufleute in edlem Tuch an uns vorbeiziehen zu sehen, die armen Glasträger mit den Waren aus den Glashütten auf dem Rücken und die abgedankten Landsknechte; und dann dieser eigenartige Gestank in der Luft – na klar: die »ungarischen Sauschneider, die man schon von weitem roch«. Keine Schmähung eines textilverarbeitenden Berufes: Bei den Sauschneidern handelte es sich um die angesehene Zunft der Vieh-Kastrierer, die den Stallgeruch so stolz trugen wie die Flaumfeder des Steinadlers an ihrem Hut.

Einen Tag wandern wir an der Vydra entlang, sie schießt und wirbelt noch immer ungebändigt zwischen glatt geschliffenen Felsblöcken dahin, die an riesige versteinerte Knödel und Knollen erinnern. Zu Klostermanns Zeiten stocherten hier im Frühling die Männer vom Ufer aus mit langen Stangen das Schwemmholz frei, das sich in schäumenden Töpfen und widrigen Spalten verkantet hatte. Wer dabei in den reißenden Fluss stürzte, war verloren.
Neben der Holz-, Papier- und Textilwirtschaft war über Jahrhunderte die Glasmacherei ein wichtiger Erwerbszweig im Böhmerwald – eine natürliche Kombination, denn die Öfen der Glashütten brauchten viel Holz. Das führte aber auch ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu ihrem allmählichen Verschwinden. Mehr und mehr Wald wurde geschlagen, für Sägewerke, Holzkohlenmeiler, Glasöfen und die Holzflöße, die über Flüsse und Kanäle gen Prag und Wien transportiert wurden. Irgendwann gab es keinen Brennstoff mehr.

In Lenora treffen wir Egon Urmann. Er kennt viele Geschichten über Glas und Glück und wie es zerbrach. Sein Vater war Glasmacher, wuchs auf in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die »Hüttenleu« richtig viel Geld verdienten, in den Gaststätten die Musiker freihielten, das Bier in Strömen fließen, die Brühwürste kesselweise auffahren ließen und sich die Zigarren mit Hundertkronenscheinen anzündeten – was die Mädels entzückte und die Bauernsöhne zur Weißglut trieb. Die Glasmacher lebten auf großem Fuße – aber zu Hause gab es oft für drei Kinder nur eine ordentliche Hose.

Urmann ist einer der wenigen Deutschen, die nach 1945 in der Tschechoslowakei bleiben durften, seines Vater wegen, der als Glasmacher den Status des unverzichtbaren Fachmanns hatte. »Es ist immer das Nationale, das das Unheil in den Köpfen anrichtet«, sagt Urmann über das finsterste Kapitel tschechisch-deutscher Geschichte. Er wendet sich gegen einseitige Schuldzuweisungen. Gewiss, die Deutschen waren die Aggressoren und Unterdrücker. Nach der Befreiung aber antworteten die Tschechen auf Gewalt und Unrecht mit Gewalt und Unrecht – die deutschsprachige Bevölkerung, fast drei Millionen Menschen, wurde vertrieben. Spuren der Geschichte: Anderntags wandern wir südwestlich von Ceské Žleby, dem einstigen Böhmisch-Röhren, entlang der Grenze zwischen Tschechien und Bayern. Drüben das propere Bischofsreut, dazwischen ein Tal, ein Bach, die Grenze, auf unserer Seite die Bergflanke mit versteppten Hängen, auf denen ein paar Kühe grasen. Blühende Kirsch- und Apfelbäume inmitten verwilderter Himbeersträucher. Und manchmal unter einer knorrigen Ulme ein paar verwitterte Fundamente. Hier standen einst Dörfer, sagt Radka, die ganz selbstverständlich tschechische wie deutsche Namen trugen: Schönberg/Krásná Hora etwa Loder Steinköpfl/Kamenná Hlava.

Bald nach der Vertreibung der Deutschen mussten hier auch die Tschechen gehen. Die Armee kam, sprengte die Häuser, ebnete die Trümmer ein. Ab Mitte der fünfziger Jahre war der Grenzstreifen menschenleer. Lassen wir Gras und Sträucher darüber wachsen, wenden wir uns nach Süden. Zu den Landschaften des Adalbert Stifter, Großdichter des Böhmerwaldes. In Oberplan kam er 1805 als Sohn eines Leinwebers zur Welt. Auf einem Hügel über dem Dorf thront sein Denkmal, sein Geburtshaus ist heute Museum. Da steht ein Hammerklavier, hinter Glas ist Stifters Totenmaske zu sehen, an den Wänden Landschaftsstücke – in der Jugend hat der Dichter sich auch als Maler versucht. Fotos zeigen einen korpulenten Herrn, der so biedermännisch-selbstzufrieden in die Welt blickt wie zum Beispiel ein angesehener Landesschulinspektor. Genau das war Stifter in Linz. Er nahm seine Aufgabe ernst. Nur über das Wissen würden »die unteren Stände« die Chance erhalten, ihre Lage zu verbessern. Auch in Stifters Romanen und Erzählungen geht es meist um Bildung: die durch Lebenserfahrungen – Liebe, Katastrophen, Entsagung, Natur. Der Dichter, wegen seiner wunderbaren Landschaftsbeschreibungen lange als Idylliker missverstanden, kannte die dunklen Seiten der Existenz nur allzu gut. Er war kein glücklicher Mensch.

Wir erreichen Krumau/Ceský Krumlov. Nach fünf Tagen Abgeschiedenheit haben wir überhaupt nichts gegen Menschengewimmel, Imbissgestank, Autohupen. Geduckt, geschachtelt, verwinkelt schmiegt sich das Städtchen in die Schlangenwindungen der Moldau, überragt von Burg und Schloss auf ihrem Felsen. Seit Ceský Krumlov 1992 von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt wurde, hat es sich deutlich verändert. Die Barock- und Renaissancefassaden am Marktplatz sind bunt gestrichen. Überall Souvenirshops und Busse, die ihre Touristen vor der Schlossbrücke ausladen. Aber noch immer ist Cesky Krumlov ein uriges Labyrinth unter Ziegeldächern mit viel Charme. Man kann auf den Steinen an der Moldau sitzen und zum bunten Schlossturm hochsehen, der an den kunstvollen Aufbau einer Hochzeitstorte erinnert. Im Fluss spiegeln sich die Mauern des »Egon Schiele Art Centrum« – Schiele wurde einst von den Bürgern vertrieben, weil er in wilder Ehe lebte und nackte Mädchen malte.

Im Barocktheater zeigt der Stadtführer Peter Polacek, was es mit dem vielzitierten »Theaterdonner« auf sich hat. Da poltern die Holzblöcke, entfalten Effektmaschinen aus dem 18. Jahrhundert barocken Bühnenzauber. Abends, im »U dwaú Maryí«, dampfen die Kartoffelnudeln unter einer dicken Schicht von heißer Butter und schwarzem Mohn. Der letzte Tag steht noch einmal im Zeichen Adalbert Stifters. Wir wandern hoch zum Plöckensteinsee, durch eine erstarrte Lawine von Felsen, über fußangelnde Wurzeln, zwischen hohen Fichten. Hier spielt, die Erzählung »Der Hochwald« von 1842, die Stifter bekannt machte und einen kleinen Touristenboom auslöste. Dass es in diesem Wald nicht ganz geheuer zugehen wird, macht Stifter in der Beschreibung des Plöckensteinsees früh klar. Es schien, »als sei es ein unheimlich Naturauge, das mich hier ansehe – tief schwarz – überragt von der Stirne und Braue der Felsen, gesäumt von der Wimper dunkler Tannen – drinn das Wasser regungslos, wie eine versteinerte Träne«.

Arthur Schnabl schwärmt vom »Sog in der Sprache dieses Dichters, der als Erster einen naturwissenschaftlichen Blick in die Literatur gebracht hat«. – »Und doch an solchn Blödsinn gschriebn hot«, fährt Radka dazwischen. In Sachen Stifter, den Thomas Mann die »Ehrenrettung der Langeweile« genannt hat, bleibt die literarische Gemeinde gespalten.

Der See am Grunde des bewaldeten Kessels hat sich seit Stifters Zeiten wohl kaum verändert. Nur das Ufer ist befestigt worden, weil eine Filmcrew es bei Dreharbeiten ruiniert hatte. Man meint, auf dem schmalen Streifen unter der Felswand am jenseitigen Ufer das Haus ausmachen zu können, in dem die »Hochwald«-Frauen Johanna und Clarissa Zuflucht fanden vor den Wirren des Krieges und von den Wirren der Gefühle eingeholt wurden. Ja, es braucht nur etwas Fantasie. Um sie zu entzünden, sind sie mitgekommen, unsere stummen, beredten Begleiter: die Dichter.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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