Pressebericht in der Süddeutschen Zeitung 23.4.02

Süddeutsche Zeitung Reisen
 

Die Stille des Holunders
Als Böhmen noch bei Österreich war

Lang sind die mährischen Dörfer. Das vor allem. Als grau-gelbe Bänder, getupft mit grünen Baumpunkten, ziehen sich die Häuschen einer schmalen Straße entlang. Auch Dorfplätze gibt es kaum, so dass die kleinen Kirchen meist am Straßenrand stehen. Die Schönheiten eines mährischen Dorfes entdeckt man am ehesten hinter den Häusern. Da findet man wunderbare Gärten, umgrenzt von Schwertlilien und beschattet von Kirschbäumen, die schon im Mai Früchte tragen. Kommt man schließlich doch an das Ende eines mährischen Dorfes, dann beginnt die Allee wie eine grüne Fortsetzung der Häuschen, kilometerlang knorrige Apfel- oder Kirschbäume.

„Böhmen und Mähren”, so hieß es schon, als Böhmen noch bei Österreich war. Und schon damals war Böhmen vorn und Mähren hinten. Von Prag aus nahm sich die ländliche Region zwischen Böhmen und der Slowakei immer ein wenig zurückgeblieben aus. Hier war man katholisch im Gegensatz zum hussitischen Böhmen, und auch die Konflikte mit den Habsburgern wogen weniger schwer. Nach 1918 hatte Mähren wiederum nicht viel zu sagen zwischen den beiden lauten Polen Böhmen und Slowakei. Jan Skácel, der mährische Dichter, hörte eine eigene mährische Hymne zwischen der tschechischen und der slowakischen: die „Stille”. In der Stille muss man nicht schreien, um gehört zu werden. Vielleicht hat dieses Land deshalb so viele leise Dichter hervorgebracht, Lyriker wie Erzähler. Es lohnt sich, ihren Spuren nachzugehen. Manche sind heute vergessen: der jüdische Journalist Jakob Julius David mit seinen Dorferzählungen oder der verarmte Offizier Ferdinand von Saar mit seiner dunkel glühenden Erzählkunst. Abgeschoben als unzeitgemäße Dichterin von Demut, Treue und Verzicht auch die größte mährische Erzählerin, Marie von Ebner-Eschenbach. Sie hat den größten Teil ihres Lebens in Mähren verbracht, in Schloss Zdislavice.

Zdislavice ist ein Dorf südöstlich der mährischen Hauptstadt Blmo, dem früheren Brünn, und hat ein Schloss. Oder sollte man sagen, das Schloss hat ein Dorf? Mährische Dörfer haben fast immer ein Schloss, und vielleicht sehen sie deshalb so grau aus: Alle Lebensfreude hat das Schloss verbraucht. Ein Kontrast, der die Ebner-Eschenbach ihr Leben lang beunruhigte: Einige ihrer Geschichten beschreiben die parasitäre Adelsgesellschaft und ihre Landarbeiter, als ob sie von Gerhard Hauptmann wären. 1916 ist sie hier gestorben, im gleichen Jahr und aufs Jahr genau so alt wie Kaiser Franz Joseph I..Die Zeit des Adels und der Schlösser war zu Ende. Heute steht das Tor offen. Ein Gärtner mäht die weiten Parkwiesen, auf denen sich einige ältere Herrschaften bewegen. Ihre Trainingsanzüge wollen nicht recht zu den antiken Tempelchen passen. In der Halle unter der Nase einer steinernen Flora stapeln sich Rollstühle. Wie so viele Schlösser ist auch Zdislavice in sozialistischer Zeit in ein Altenheim verwandelt worden. An die einstige Schlossherrin erinnert eine Büste: schwere Gesichtszüge, würdig einer alten Bäuerin, nicht einer dichtenden Adligen.

Irgendwo ist hier auch die Gruft der Ebner-Eschenbach. Die Pflegerin führt durch meterhohe Brennnesseln und erzählt: Wieder steht ein Umbruch bevor. Bald werden die 85 Alten ausziehen müssen. Zdislavice wird dem letzten Eigentümer zurückgegeben. Auch bei Schloss Rajec im mährischen Karst nördlich von Brünn klopfen frühere Eigner ans Tor. Was dann wohl aus der wunderbaren Bibliothek wird, in der schon der arme Poet von Saar stöberte? Früher gehörte Rajec der Familie Salm-Reifferstein, die dem Dichter hier oft Obdach gewährte. Die Salms waren nicht bloß Kunstmäzene, sondern auch Industrielle. 1830 legten sie im Städtchen Blansko im Svitava-Tal die Grundlage für die mährische Eisenindustrie. Die weltberühmte Marienbader Kolonnade stammt von hier. Die Stadt ist ein seltsamer Zwitter aus Industrie und Tourismus. Sie liegt im Zentrum des mährischen Karstes, einer reizvollen Waldlandschaft mit fantastischen Höhlensystemen. In dieses Naturreservat brach nach 1945 die Industrie, als der Staat es an der Zeit fand, die mährische Stille zu unterbrechen. Jetzt zieht sich Fabrik an Fabrik durch das malerische Tal. Der grausige Höhepunkt dieser Zwangsindustrialisierung ist das ehemalige Holzfällerdorf Adamov. Zweifach gestaffelt wachsen die Plattenbauten die bewaldeten Hänge hinauf. Eine Betonstadt, in der, einmalig im kneipenfrohen Tschechien, auch nach längerer Suche keine Bierkneipe aufzutreiben ist.

Lieber zurück unter die Schatten der Apfelbäume. Sie führen hinaus aus dem Karst und durch eine bunte Wiesen- und Hügellandschaft ins Städtchen Boskovice. Hier ist die Traurigkeit nicht betoniert, hier lebt sie in alten Häusern, was ihr viel besser steht. Einst war Boskovice fast ein Stetl: Die Hälfte der Einwohner waren Juden. Ein Tor des Ghettos steht noch und auch die niedrigen, schutzsuchend aneinander gereihten Häuschen. Boskovice war das wichtigste Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit in Mähren. Hier wehrte sich strenge Orthodoxie lang gegen die misstrauisch beäugte assimilatorische Aufklärung, der Haskala.

Wem es zu eng wurde, der ging fort – am besten nach Prag. Auch Hermann Ungar, der Sohn des jüdischen Bürgermeisters. Mit 35 Jahren ist er dort gestorben. Hinterlassen hat er ein schmales Werk, das von der Angst handelt. Die wenigen, die ihn kennen, nennen ihn gern einen zweiten Kafka. Immerhin, in Boskovice erinnert eine Büste an ihn, und ein kleines Museum beschwört alte Zeiten herauf. Den Schlüssel zur Vergangenheit aber hat Herr Buric. „Geradeaus, neue Straße, scheene Heiser. Dort, ja.” Dort, das ist eine Reihenhaussiedlung, die vom relativen Erfolg des tschechischen Kapitalismus kündet. Die Garagen bergen neue Škodas und Toyotas. Eine haben sie zur Kneipe umfunktioniert.

Die Heimat des Törleß
Hinter dem tschechischen Modell Zukunft beginnt die Vergangenheit: der schönste jüdische Friedhof von Böhmen und Mähren. Wie in einem Amphitheater klettern Grabsteine den geschwungenen Hang hinauf, als ob sie ihren Genossen im Talgrund beim Schauspiel des Versinkens zusehen möchten. Abendlicht sickert durch riesige alte Bäume auf die Steine. Die Namen erinnern daran, dass sich die Juden hier der deutschen Sprache und Kultur zugehörig fühlten. Wie viele berühmte Dichter kamen aus der mährischen Provinz? Und wie viele Autoren zogen von hier in die Vergessenheit? Die deutschsprachige Dichtung Prags wäre nicht möglich gewesen ohne die Namen auf den alten Grabsteinen von Städtchen wie Boskovice.

Oder von Hranice, dem früheren Mährisch-Weißkirchen. Das hübsche Städtchen liegt am Rand der Hanna, der fruchtbaren mährischen Ebene. Neben Rüben und Kartoffeln wurde hier, im stillsten Winkel des Reiches, der Offiziersnachwuchs der k.u.k.-Monarchie herangezogen. In Mährisch-Weißkirchen stand die Kadettenanstalt, in der auch die Zöglinge Rainer Maria Rilke und Robert Musil Bekanntschaft mit dem Drill machten. Rilke floh nach drei Monaten, Musil hielt durch und machte die Stadt mit seinem Erstling „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß” zum Ort der Weltliteratur. Später bildete auch die Tschechoslowakei hier ihre Offiziere aus. Und immer noch lastet die Verlorenheit, die Törleß und seine Kameraden zu ihren pubertären Machtspielen trieb, auf den Gebäuden.

Auch Josef Roth lässt seinen Habsburger-Roman „Radetzkymarsch” in der „kleinen Bezirksstadt W. in Mähren” beginnen – mit einem Konzert der Militärkapelle auf dem Marktplatz. Bis auf ein modernes Gebäude sieht der arkadenumstandene Platz heute aus wie damals. Und Kaiser Franz Joseph sieht in vergoldeter Väterlichkeit auf die kleine historische Ausstellung im Rathaus herunter. Und dann hört man es: bidi bim, bidi bim, bidi bim bim bim – „wenn der Hund /mit der Wurscht /übern Randstein springt…” – die berühmten Takte des Radetzky-Marsches. Sie hüpfen von einer Lochplatte, die die Museumswärterin aufgelegt hat, zu Ehren des seltenen Besuches.

Dem ewigen Österreich begegnet man auch in den großen Städten Olmütz und Brünn. Die mährische Hauptstadt Brno ist eine Kopie der großen Schwester Wien. Natürlich haben sie eine Kapuzinergruft hier, noch schöner und schauerlicher als in der Kaiserstadt. Dennoch hat sich Brno eine ganz eigene Identität geschaffen. Unbelastet von Traditionen konnte sich hier in der mährischen Provinz die Moderne konsequenter entfalten als in Wien oder Prag. Brno war die Hauptstadt des berühmten tschechischen Funktionalismus der zwanziger Jahre. Die meisten Zeugnisse dieser aufregenden Architekturepoche finden sich hier: Messegelände, Studentenheime, Hotels und wie elegante Schiffe aussehende Privatvillen. Vieles ist arg ramponiert. Stahl und Beton altern nicht in Würde. In ihre sachliche Eleganz kann die Zeit keine Chiffren schreiben, sie zerstört sie nur. Nicht zufällig, so scheint es, stammen zwei berühmte Chronisten des fragwürdig gewordenen Fortschritts aus dieser Stadt. Robert Musil hat hier seine Jugend- und Studentenjahre verlebt. Und Milan Kundera ist in dieser Stadt geboren und hat die bekannte Filmhochschule besucht. Ihren Ruhm haben sie sich woanders erschrieben: in Wien und Berlin, in Prag und Paris.

Einer aber ist geblieben, und darum kennt und hebt man ihn nur hier, in Mähren. Vor einem unscheinbaren Mietshaus blickt ein großes metalldunkles Gesicht von der Wand: Hier hat Jan Skácel, der mährische Lyriker, bis zu seinem Tod 1989 eine leise Existenz zwischen Rundfunkarbeiten und Schreibverboten geführt. Seine bildreichen und tiefgründigen Gedichte sind ein Plädoyer für die Stille, für die mährische Stille zwischen grauen Dörfern und bunten Wiesen. Rainer Kunze hat sie kongenial ins Deutsche übertragen: in den scheunen trocknet aufgehängte stille / die bären meiner träume nahmen alle bienenstöcke aus / die zeit blieb stehn in ferner zukunft /und bleibt vergangen auf der tenne hinterm haus.

Arthur Schnabl

Die Texte stammen von den oben aufgeführten Zeitungen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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